Das Mädchen von Glenveagh: Eine Samhain-Erzählung
Im Herzen von Donegal, dort, wo die Derryveagh Mountains in weichen Linien den Himmel berühren, liegt Lough Beagh. Ein stiller See, schwarz wie Stein, eingerahmt von den Wäldern des Glenveagh Nationalparks. An klaren Tagen spiegelt er den Himmel, an nebligen scheint er ihn zu verschlucken und die Geheimnisse der Welt darin zu verwahren. Wer am Ufer steht und tief atmet, spürt jedoch, dass dies kein gewöhnlicher Ort ist. Etwas in der Luft hält den Atem an, als lausche es einer alten Erzählung, der Samhain-Erzählung von dem Mädchen von Glenveagh.
Mädchen von Glenveagh: Verschwunden in der Nacht
Es heißt, dass hier vor vielen Jahren in der Nacht vor Allerheiligen ein kleines Mädchen verschwand. Sie war noch keine zehn Jahre alt und auf dem Heimweg vom Dorf, wo sie Einkäufe für ihre Mutter erledigt hatte. In ihrer Schütze steckten Mehl, Tee und gesalzener Hering, den sie für das Abendessen mitbringen sollte.

Der Himmel war blass, der Wind trug Regen in der Ferne, und niemand dachte sich etwas dabei, dass sie allein ging. Schließlich gingen die Kinder in der Umgebung diesen Weg jeden Tag.
Doch sie kam an diesem Abend nicht wieder nach Hause.
Es dauerte nicht lange, da machten sich ihre Eltern und einige Nachbarn auf die Suche nach ihr. Zuerst in direkter Umgebung und dann auf der gesamten Strecke ins Dorf. Mit Lampen und Rufen versuchten sie, die Kleine zu finden. Doch vergeblich. Es war, als hätte sie die Nacht sie verschluckt.
Von Anglern gefunden
Zwei Tage vergingen, bis sie von Anglern, die zu Gast im Schloss von Glenveagh waren, gefunden wurde. Zuerst dachten die Männer, die blasse Gestalt hoch oben auf den Klippen über dem See, wäre ein Geist. Doch dann erkannten sie das kleine Gesicht als das eines Kindes.
Sie stand dort am Rand, barfuß, bleich, die Augen weit offen, als hätte sie etwas gesehen, das nicht für menschliche Augen bestimmt war. Da sie auf die Rufe der Männer nicht reagierte, rettete man sie mithilfe von Seilen. Sobald sie jedoch wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, erkannten die Angler, dass ihr Blick leer war.
Sie hatte überlebt, doch etwas in ihr hatte sich verändert.

Mädchen von Glenveagh: Die irischen Feenwesen & das Salz
Die alten Leute im Tal hatten keinen Zweifel daran, was geschehen war. Das Mädchen musste den Good People begegnet sein, den Feen, die in Irlands Geschichten kein süßen Fabelwesen sind, sondern mächtige, oft launische Gestalten aus einer anderen Welt.
Man glaubte, dass sie an Samhain, der Nacht vor Allerheiligen, frei durch das Land ziehen. Eine Nacht, in der der Schleier zwischen den Welten besonders dünn ist, und wer zur falschen Zeit unterwegs ist, kann leicht in die Irische Anderswelt geraten.
Und doch, so hieß es, hatte das Mädchen Glück. Denn in ihrer Schürze lag der Hering, gesalzen, wie es damals üblich war. In alten Überlieferungen gilt Salz als Schutz vor den Feen und der Anderswelt. Es bindet die Seele an diese Welt. Feen können den Geist verwirren, Menschen in Träume führen oder in ihren Tanz ziehen, aber sie können niemanden ganz mitnehmen, der Salz bei sich trägt. So war es wohl das Salz, das das Mädchen zurück in diese Welt und an den Rand der Klippe in Glenveagh brachte.
Bis heute erzählen sich die Menschen in Donegal, dass man in der Nacht zu Halloween eine kleine Prise Salz in die Tasche stecken oder übers Haupt streuen soll, bevor man hinausgeht. Nicht, weil man noch immer fest an Feen glaubt, sondern weil man Geschichten respektiert, die älter sind als man selbst.

Das Mädchen von Glenveagh: Eine Geschichte, die das Land erzählt
Wenn im Oktober der Wind über Glenveagh streicht, trägt er den Geruch von Torfrauch und Regen.
Die Hügel verlieren ihr sattes Grün, der See wird dunkler und das Licht scheint kürzer zu verweilen. In dieser Jahreszeit hat Irland etwas Unwirkliches an sich, etwas Mystisches. Es ist, als würde das Land selbst zurückblicken, auf all die Jahrhunderte, auf seine Mythen, seine Geister und seine Menschen.
Samhain ist eine Schwelle, ein Flüstern, ein Moment zwischen dem, was war, und dem, was kommen wird.
Und irgendwo, am stillen Ufer von Lough Beagh, schweigt das Wasser noch immer vor sich hin. Vielleicht hält es die Geschichte unter seiner dunklen Oberfläche gefangen, so wie die Feen das Mädchen. Und nur wenn der Wind zu flüstern beginnt, erzählt es leise von dem Mädchen, dem Wind und dem Salz, das eine Seele zu uns zurückbrachte.
